Prolog
Nur für einen kurzen Augenblick verspürte Cardaryll das Gefühl der so lange herbeigesehnten Erlösung. Dieser Augenblick genügte jedoch, das Wort „Erlösung“ in seiner gesamten Tragweite zu begreifen. Der Geist löste sich von einem Körper, der zu einer unerträglichen Last geworden war.
In rasend schneller Abfolge reihten sich Bilder aneinander, die kein menschliches Auge in dieser Weise zu sehen vermocht hätte. Ihr gesamtes, absonderlich langes Leben lief noch einmal vor dem aus Cardarylls Körper entflohenen Geistwesen ab: ihre umjubelte Geburt als Tochter eines Grafen, die unbeschwerte Jugendzeit, die Heirat mit dem Sohn des aufstrebenden Herzogs, die alles veränderte. Es folgten die schrecklichen Bilder von Intrigen und Kriegen, von gewaltsamen Morden an ihr nahestehenden Personen und die Flucht, die zu einer erneuten Veränderung führte. Tief in den Wäldern und auf kahlen Hochebenen irrte sie umher und stieß bei ihrer Nahrungssuche schließlich auf eine unscheinbare Pflanze, die das elende Leben, an das sie sich so sehr klammerte, auf natürliche Weise unnatürlich verlängerte. Dann kam der Tag, an dem die Pflanzen zu sterben begannen. Eine rätselhafte Krankheit hatte sie befallen. Und mit den Pflanzen begann auch Cardaryll zu sterben.
Schlagartig brachen die Bilder ab. Cardarylls Geist stieß an eine Grenze. Nicht die lange erhoffte, unendliche Freiheit umfing sie, sondern ein entsetzliches Gefängnis. Das Geistwesen sah auf zwei leblose Körper hinab, ihren eigenen, zerfallenen, und den eines wunderschönen, jungen Mädchens. Cardaryll hatte dieses Kind ein einziges Mal gesehen, und daher wusste sie, dass es sich um die Hülle der schwachsinnigen Tochter des Herrschers von Silvarik handelte.
„Entscheide dich!“
Die schneidenden Worte verdeutlichten Cardarylls Geist, dass noch eine dritte, lebende Person anwesend war. Der Mann trug einen spitzen, roten Hut und ein ebenso rotes Gewand mit einem breiten, silbernen Gürtel. Die eisigen Augen unter den langen, grauen Brauen schienen selbst die den Menschen verborgenen Sphären zu durchdringen. Dabei wusste das Geistwesen, dass dies nicht möglich sein konnte.
Das Gesicht mit der ungewöhnlich langen Nase und den schmalen, zusammengepressten Lippen wirkte wie versteinert, als der Mann sich erhob.
„Ich werde diesen Raum nun verlassen“, kündigte er an. „Falls du dich bis dahin nicht in den Körper Lordalias begeben hast, wirst du bis ans Ende der Zeiten in diesem Gefängnis eingesperrt bleiben.“
Wieso war es einem Sterblichen gelungen, eine Seele einzusperren? Das Geistwesen, das den Körper Cardarylls verlassen hatte, kannte die Antwort nicht. Es blieb auch nicht mehr die Zeit, sie herauszufinden. Der Mann im roten Gewand näherte sich bereits der unsichtbaren Mauer, die den Raum begrenzte. Die Seele, die viel zu lange im Körper Cardarylls gelebt hatte, schlüpfte in die sterbliche Hülle Lordalias. Das Mädchen schlug die Augen auf. Erschrocken stellte es fest, dass die feine Perlenkette nun mit seinem Hals verbunden war. Sie glich einer Fessel.
Der Mann mit dem roten Spitzhut lächelte hintergründig.
„Deine Entscheidung, mir zu helfen, ist richtig“, sagte er. „Wenn du alle Aufträge erledigt hast, die ich dir zugedacht habe, werde ich deine Seele wieder freilassen.“
Das Geistwesen verlor die Erinnerung an Cardaryll. Es war nun fest mit Lordalias Körper verwoben. All die Erfahrungen und das ungeheure Wissen eines unglaublich langen Lebens versanken in den Tiefen des neuen Bewusstseins. Gleichsam einem Schatz auf dem Meeresgrund standen sie jedoch bereit, eines Tages entdeckt und gehoben zu werden.
Der rot gekleidete Mann ergriff das Mädchen behutsam am Arm und half ihm, von seiner Liegestatt aufzustehen.
„Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben“, erklärte er freundlich. „Ich bringe dich wieder nach Hause.“